Von angeleitetem Hinterm-Ohr-Kratzen und weiteren Überlebenschancen
Wenn über Selbstbestimmungsrecht und Autonomie der*des Einzelnen geredet wird, geht es meist darum, wie persönliche Vorstellungen und Wünsche möglichst ohne größere Abhängigkeiten und Vorgaben umgesetzt werden können. Dies betrifft Lebensart, Karriere, Partner*innen und Kinder, Reisen und Projekte.
Das spielt auch für schwerbehinderte Menschen in Bezug auf Assistenz eine große Rolle. Doch für sie bedeuten Selbstbestimmung und Autonomie in erster Linie Dinge, die für den Großteil der Menschen so selbstverständlich sind, dass sie daran keinen Gedanken verschwenden. Dazu gehört z.B. sich hinter dem Ohr zu kratzen.
Persönliche Assistenz ist dafür da, dass Menschen mit schweren Behinderungen ein Leben führen können, das dem von Menschen ohne Behinderung ähnlich ist. Jede*r kratzt sich mehr oder weniger unbewusst, wäscht sich die Hände auf die eigene Art oder bildet beim Blumengießen irritierende Rituale aus. So etwas ist also keinesfalls ein Luxus, auch nicht in der Assistenz. Vielmehr stellen derartige Banalitäten und Merkwürdigkeiten einen Teil der Würde der*des Einzelnen dar. In der Assistenz sind sie im Prinzip sogar ein wichtiger Faktor des Überlebens bei schwerer Krankheit.
Deshalb beinhaltet die persönliche Assistenz besondere Rechte. Die Menschen mit Behinderung, die auf Assistenz angewiesen sind, können darüber bestimmen welche Assistenzperson wann, wo und wie welche Tätigkeiten ausführt. Für die Umsetzung von persönlicher Assistenz sind gegenseitiger Respekt und Vertrauen zentral.
Der Raum „Selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden“ zeigt exemplarisch auf, was persönliche Assistenz ermöglicht.
„Wie ich es erlebte, als ich das erste Mal über meinen Alltag bestimmen konnte, erzähle ich euch jetzt:
Auf einmal stand da Sven im Zimmer – Anfang 20, gerade selbst weg von Mutti. Er wusste nichts – nicht, wie ein Klo geputzt wurde, nicht, wie man Kaffee kochte, erst recht nicht, wie ich gewaschen, angezogen und in den Rollstuhl gesetzt wurde. Ich musste ihm alles ganz genau erklären. Das erste Mal in meinem Leben gab ich vor, wie ich angefasst und bewegt werden sollte. Ich hatte keine Schmerzen mehr und auch keine Angst. Und ich bestimmte, was es zum Frühstück gab, denn es war mein Kühlschrank, den ich füllte.
Zugegeben: Der Kaffee war unter aller Sau. Das lag daran, dass ich auch nicht wusste, wie Kaffee gekocht wurde. Sonst hätte ich es Sven gesagt. Ja, auch das Klo war im Sinne des Wortes scheiße. Und manchmal war der Kühlschrank leer, weil wir vergessen hatten, vor dem Wochenende einzukaufen oder weil ich mein Geld schon vor Monatsende verbraucht hatte. Aber es war geil! Es war mein Leben – so richtig meins!“