Biologisierung der Gesellschaft

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Die „Bioethik-Konvention der Europäischen Union“ von 1997 befasst sich mit medizinischer Forschung am Menschen und der Verwertung menschlichen Gewebes. Nach Artikel 2 soll grundsätzlich das Wohl und Interesse des menschlichen Lebewesens gegenüber dem Interesse der Gesellschaft oder Wissenschaft Vorrang haben. Kritiker*innen der Konvention weisen darauf hin, dass zum einen der freie Wille der Betroffenen betont wird, allerdings medizinische Experimente mit komatösen, demenzkranken und geistig behinderten Menschen, Gentests sowie Forschung an Embryonen erlaubt sind. Deutschland hat die Bioethik-Konvention bisher weder unterzeichnet noch ratifiziert, zu groß ist der Widerstand.

Der steinige Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft
Die Würde des Menschen

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„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So ist es in Artikel 1, Satz 1 des Grundgesetzes formuliert. Damit wird Bezug auf die nationalsozialistische Einteilung von „lebenswerten“ und „lebensunwerten“ menschlichen Leben genommen sowie seit der Wiedervereinigung 1990 auf die SED-Diktatur, die ihre Bürger*innen zu „sozialistischen Menschen“ erziehen wollte.

Doch diese alte Verführung, die Idee der „Verbesserung des Menschen“, wirkt weiter. Die Fortschritte der Reproduktionstechnologie, Genetik und Medizin erlauben die zunehmende „Optimierung“ der menschlichen Biologie und damit eine scheinbare „Optimierung“ der Gesellschaft.
Wollen wir alles erlauben, was technisch möglich ist?

Anfang und Ende des Lebens scheinen weniger definiert und damit das menschliche Werden und Vergehen durchlässiger. Die Embryonenforschung stellt uns vor die Frage: Wann beginnt menschliches Leben?

Der Herztod, die alte Definition des Todeszeitpunkts, wurde ersetzt durch den Hirntod. So können Maschinen zum Zweck der Organtransplantation die Organe „am Leben“ erhalten. Das stellt uns vor die Frage: Wann endet menschliches Leben?

Die Würde des Menschen: Unantastbar?

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Methoden der Geburtenkontrolle und der pränatalen Diagnostik erscheinen nur zu oft „vernünftig“. Der als Kassenleistung beschlossene Bluttest zur Feststellung von Trisomien (bestimmte genetische Abweichungen) ab Frühjahr 2022 ermöglicht in der Schwangerschaft eine immer frühere und scheinbar ungefährliche Feststellung einer möglichen Behinderung. Diese Prognose führt in den meisten Fällen zum Abbruch der Schwangerschaft. Mit der Erweiterung der technischen Möglichkeiten erhöht sich gleichzeitig der gesellschaftliche Druck auf die werdenden Eltern: Ein behindertes Kind, das lässt sich doch verhindern, so wird es von Vielen bewertet. Letztlich handelt es sich um Selektion „behinderten Lebens“.

Mit einer Demonstration unter dem Motto: „INKLUSION STATT SELEKTION“ wird anlässlich der Bundestagsdebatte über den Nutzen nichtinvasiver Bluttests zur Diagnose von Trisomien protestiert, wie etwa dem Down-Syndrom.

Leben darf niemals bewertet werden

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Viele Menschen sind versucht zu denken: Wenn ein Leben durch Krankheit oder Alter nicht mehr lebenswert zu sein scheint, dann mag es erlaubt sein, dieses Leben beenden zu lassen – durch assistierten Suizid. Die jüngsten Selbsttötungs-Debatten gingen 2021 vor dem Bundesverfassungsgericht zu Gunsten des selbstbestimmten Sterbens aus. Gewerbliche Beihilfe zum Suizid ist damit nicht mehr verboten.

In den Wettbewerbszwängen des Kapitalismus besteht die Gefahr, dass das Kriterium einer vermeintlichen „Nützlichkeit“ eines Individuums Anfang und Ende des Lebens bestimmt. Die ökologische Katastrophe unserer Welt könnte diese menschenverachtende Wertung von Leben noch verschärfen.

Wolfgang Röcker: Zur Biologisierung des Sozialen. In: Über „Euthanasie“ gestern und heute, S. 29