Die Ermordung von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus

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Bereits im späten 19. Jahrhundert wird in vielen Ländern die Unfruchtbarmachung von Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung erwogen. Mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg radikalisieren sich die Auseinandersetzungen mit dem Ergebnis, dass sich Befürworter*innen der unfreiwilligen Unfruchtbarmachung (Zwangssterilisation) durchsetzen. Auch die Tötung von „Arbeitsunfähigen“, „Minderwertigen“ und „unnützen Essern“ wird bereits in Betracht gezogen. Die Nationalsozialisten setzen beides, „Auslese“ und „Ausmerze“ in brutaler und mörderischer Praxis um.

Im Nationalsozialismus

Anfang 1934 tritt das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Insgesamt werden bis Frühjahr 1945 rund 400.000 Jugendliche, Frauen und Männer in der Regel gegen ihren Willen sterilisiert. Davon betroffen sind Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung sowie sozial diskriminierte Menschen, sogenannte „Asoziale“ und Zwangsarbeiter*innen. Rund 5.000 Betroffene sterben infolge der Zwangssterilisation, viele leiden lebenslang unter dem Eingriff.

Ein Runderlass regelte die Meldepflicht von unter dreijährigen Kindern. Hierzu gehörte die Festlegung, welche Personen zur Meldung verpflichtet wurden und welche Kinder aufgrund von Erkrankung bzw. Behinderung fortan unter die Meldepflicht fielen.

 

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wird die systematische Ermordung von „Arbeitsunfähigen“ und „Minderwertigen“ zentral geplant und durchgeführt. Über 200.000 Menschen, darunter bis zu 10.000 Kinder, werden in Deutschland und den besetzten Gebieten im Rahmen verschiedener „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet. Ärzt*innen und Pflegekräfte töten mit Gas, Giftspritzen, Nahrungsentzug und Medikamenten; in Polen auch durch Massenerschießungen.

NS-Tötungsanstalten

Diese systematische Tötung lässt sich in zwei Phasen einteilen:

  1. Von 1939 bis 1941 wird in sechs über das Reich verteilten Tötungsanstalten überwiegend mit Gas gemordet. Dieser Mord wird als „Aktion T4“ bezeichnet, benannt nach der Organisationsadresse Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte.
  2. Ab Herbst 1941 morden Ärzt*innen und Pflegekräfte in Anstalten, Heimen und Krankenhäusern mit tödlichen Spritzen, Nahrungsentzug und Medikamenten. Viele der männlichen Täter der „Aktion T4“ sind in der Folgezeit im besetzten Polen an den Morden in den Vernichtungslagern Sobibór, Bełżec und Treblinka beteiligt.
Historisches Dokument
In diesem Brief erlaubt Adolf Hitler ausgewählten Medizinern den »Gnadentod« gewähren zu dürfen. Ermächtigungsschreiben von Reichskanzler Adolf Hitler an Reichleiter Philipp Bouhler und Leibarzt Karl Brandt vom 1. September 1939

Offenen Widerstand gibt es kaum. Der wissende Teil der Bevölkerung bleibt gleichgültig oder nimmt die Morde billigend in Kauf. Nur vereinzelt regt sich Protest wie der des münsteraner Bischofs von Galen. Die meisten Einrichtungen, viele kirchlich oder in Trägerschaft der Wohlfahrt, sehen sich vor schwierige Entscheidungen gestellt. Wenige Einrichtungen versuchen Menschen zu retten, viele Heime und Anstalten unterstützen die menschenverachtende Auslese.

Nach 1945

Nur wenige beteiligte Ärzt*innen, Verwaltungsangestellte oder Pflegekräfte müssen sich nach 1945 vor Gericht für ihr Handeln verantworten. Die meisten staatsanwaltlichen Ermittlungen im Rahmen einer juristischen Aufarbeitung der Verbrechen werden eingestellt, ein Großteil der Täter*innen und der am Mord Beteiligten werden im Zuge der sogenannten Entnazifizierung als „Mitläufer“ eingestuft und weiterbeschäftigt. Etliche Verantwortliche machen in der Nachkriegszeit sogar Karriere.

Erst 1988 wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Bundestag als NS-Unrecht erklärt. 1998 werden die Urteile der „Erbgesundheitsgerichte“ aufgehoben. Seit 2002 haben Opfer der Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ sowie deren Angehörige Anspruch auf geringfügige Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz.

Die historische Aufarbeitung der Verbrechen findet verstärkt seit den 1980er-Jahren statt. Vor allem die Veröffentlichungen des Journalisten Ernst Klee und der alternative Gesundheitstag, bei dem 1980 und 1981 die Auseinandersetzung um NS-Medizin und „Euthanasie“-Verbrechen Gegenstand waren, förderten die Aufarbeitung. Der Fund von 30.000 Krankenakten der Opfer der „Aktion T4“ in den 1990er Jahren löste eine zweite Aufarbeitungswelle aus. Mit der Aufhebung von Sperrfristen und der Veröffentlichung der Namen der Opfer, inzwischen unterstützt durch Angehörige, befassen sich seit einigen Jahren in einer dritten Aufarbeitungswelle auch öffentlich getragene sowie kirchliche Einrichtungen mit ihrer NS-Verstrickung.

Das Inhaltsvereichnis von „Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?“
Rückseite: Wunder, Michael / Sierck, Udo (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand. Mit Beiträgen von Gesundheitstag Hamburg 1981.
Inhalt: Wunder, Michael / Sierck, Udo (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand